Handwerk Special Nr. 65 vom 25. November 1998 - page 14

Gedankenaustausch mit ausländischen Handwerkern über Zukunft und Vergangenheit
ImGespräch:
Seit fast einem Vierteljahrhun-
dert lädt Karl-Jürgen Wilbert,
Hauptgeschäftsführer der
Handwerkskammer Koblenz,
ausländische Handwerker, die
sich bei der HwK auf ihre
Meisterprüfung vorbereiten, zu
einem vorweihnachtlichem
Gespräch ein. Er spricht dann
23.Weihnachtsgespräch in der Handwerkskammer Koblenz
mit ihnen über ihr Leben in
Deutschland. Er fragt nach
ihren Zukunftsplänen, Wün-
schen und Träumen und da-
nach, ob auch für sie Weih-
nachten ein Fest der Wärme
und Beschaulichkeit ist.
In diesem Jahr spricht er mit ih-
nen auch darüber, wie sie über
die doppelte Staatsbürgerschaft
denken.
DieGesprächspartnerdesHaupt-
geschäftsführers am festlich ge-
decktem Tisch sind: Der türki-
sche Informationstechniker Er-
dogan Caglar, die russische Fri-
seurin Anna Lorenz, der irani-
sche Metallbauer Hamid Sham-
lou, der türkische Karosserie-
und Fahrzeugbauer Ahmet Tun-
cer, die türkische FriseurinHati-
ceUrkayundderpolnischeKraft-
fahrzeugtechniker Piotr Balew-
ski.
Sie leben schon viele Jahre in
Deutschland, die meisten von
ihnen haben eine deutsche Schu-
le besucht und hier ihre Hand-
werkslehre erfolgreich beendet.
In Deutschland haben sie die für
sie fremdeSprachegelernt.Heu-
te sprechen sie sie fließend, teils
mir dem Akzent der Region, in
der sie wohnen. Sie haben deut-
sche Freunde oder Lebenspart-
ner gefunden. Alle fühlen sich
wohl in Deutschland. Auslän-
derfeindlichkeit haben sie am
Rande kennengelernt. Hatice
Urkay erzählt, daß es für sie als
Türkin 1986 schwer war, einen
Ausbildungsplatzzubekommen.
ErdoganCaglarerinnertsich,daß
er einmal in eine Schlägerei mit
Skinheads geraten ist. „Das liegt
aber nicht daran, daß Sie Aus-
länder sind. Meinem Sohn ist
das auch einmal passiert“, räumt
Karl-Jürgen Wilbert ein.
Die Frage des Hauptgeschäfts-
führers, ob seine Gäste sich vor-
stellen können, wieder in ihr
Heimatlandzurückzukehren,ver-
neinen dieGesprächspartner na-
hezu geschlossen. Sie sind ver-
bundenmit demLand, das ihnen
eine zweite Heimat wurde. Sie
haben indeutschemBodenWur-
zelngeschlagen.Nachts träumen
sie auf Deutsch.
Anna Lorenz hat 1990 ihre sibi-
rische Heimat verlassen, um ih-
rem Mann nach Deutschland zu
folgen. Sie
gibt zu, daß
sie „traurig
ist, daß mei-
neZwillinge
meine Mut-
tersprache
nicht spre-
chen. Trotz-
dem versu-
che ich die
Liebe zu meinem wunderschö-
nem Land meinen Kindern zu
vermitteln“, sagt sie. Anna Lo-
renz erzählt, daß Ihr Mann ur-
sprünglich gegen ihre Berufstä-
tigkeit nach dem Mutterschutz
war. „Mir fiel zu Hause aber die
Decke auf den Kopf. Ich habe
meinem Mann erklärt, daß Zu-
friedenheit jedes Partners Vor-
aussetzung für ein glückliches
gemeinsames Leben ist.“ Mit
dem Meisterbrief in der Tasche
wird sie auch den Sprung in die
Selbständigkeit wagen. „Sie
schaffen es“, ist Karl-Jürgen
Wilbert überzeugt.
Auch ihreKolleginHaticeUrkay
plant, sich selbständig zu ma-
chen. Zur Zeit hilft sie ihrem
Mann im Wei-
ßenthurmer Le-
bensmittelge-
schäft. „Denk-
bar, daß unsere
Kunden gleich
einenFriseurter-
minvereinbaren
oder umgekehrt
unter der Haube
eineLebensmittelbestellungauf-
geben können“, erklärt sie la-
chend. ImGespräch denken sich
dann die Gäste eine Vernetzung
der Werbung beider Geschäfte
aus.
Während Erdogan Caglar in der
Selbständigkeit ein finanzielles
Risiko sieht und deshalb skep-
tisch ist, vertritt Ahmet Tuncer
die Auffassung:
WennderMarkt
mirnichtsanbie-
tet,bieteichmei-
neLeistungdem
Markt an. „Wer
als Ausländer in
Deutschland le-
ben will, muß
auch hier seinen
Weg gehen. Die
Zeit ist dabei ein
sehr guter Lehrer. Wir müssen
mit der Zeit reisen, dabei flexi-
bel sein und dürfen nicht an star-
rem Denken festhalten“, erklärt
der türkische Karosserie- und
Fahrzeugbauer. AlsMitglieddes
Ausländerbeirates des Kreises
Bad Neuenahr/Ahrweiler trifft
er immer wieder mit Menschen
zusammen, die Integrations-
probleme auch deshalb haben,
weil sie sich mental nicht der
Gegenwart, demdeutschen Hier
und Heute anpassen können.
Hamid Shamlou ist in Deutsch-
land aufgewachsen. Er erinnert
sich an den schwierigen Beginn,
da er als 13jähriger, ohne ein
Wort Deutsch zu sprechen, in die
sechste Klasse eingeschult wur-
de. Mittlerweile hat er ebenso
vieldeutschewieiranischeFreun-
de. Er träumt davon, später zu
studieren. Mit seiner deutschen
F r e u n d i n
schmiedet er
Zukunftsplä-
ne, eine große
Familie ist dem
Iranerwichtig.
„Was halten
Sie von der
d o p p e l t e n
Staatsbürger-
schaft?“, fragt
Karl-Jürgen Wilbert seine Ge-
sprächspartner. Erdogan Caglar
würde es begrüßen. Ahmet Tun-
cer wünscht sich die deutsche
Staatsbürgerschaft. Aus Verant-
wortungsbewußtsein verzichtet
er allerdings. „Ich würde mein
Mandat imAusländerbeirat ver-
lieren. Die Menschen haben mir
aber ihr Vertrauen geschenkt.“
Wie steht der Hauptgeschäfts-
führer zu diesem Thema, möch-
ten seineGästewissen. „Ichden-
ke, daß es gut wäre, wenn jeder
mit 18 Jahren entscheiden könn-
te, ob er in Deutschland oder in
seinem Land wählen möchte.
Beides ist zuviel. Man muß sich
für eine Richtung entscheiden.
Dazu zählt auch, daß man sich
zu dem Staat bekennt, in dem
man lebt.“ Karl-Jürgen Wilbert
gibt zu bedenken, daß „es nichts
bringt, wenn im Bereich der
Staatsangehörigkeit zu liberal
verfahren wird.”
Weihnachten? Welche Gedan-
ken bewegen Sie, fragt der
Hauptgeschäftsführer zumEnde
des Gesprächs. Alle wissen,
welche Bedeutung das Weih-
nachtsfest für die Christen hat.
Für denKatholikenPiotrBalew-
ski und sei-
nepolnische
Frau gehört
der Kirch-
gang dazu
und ein gro-
ßesmehrgän-
giges Weih-
nachtsmenue.
„Gans mit
Obst gefüllt und viele Speziali-
täten der polnischenKüche wird
es geben, die ganze Familiewird
zusammensein“, sagt er. Sein
Klottener Dialekt ist unüberhör-
bar. „Den lernt man automatisch
bei der Arbeit“, so Piotr.
Hamid Shamlou wird wie be-
reits im Vorjahr bei seiner deut-
schen Freundin und ihren Eltern
feiern. Erdogan Caglar verlebt
Weihnachten festlich, aber ohne
Weihnachtsbaum.
„Das hängt nicht
mit demGlauben
zusammen, son-
dern mit der Ar-
beit, die ich mir
nichtmache“, er-
klärt er. Ahmet
TuncerundAnna
Lorenzfeiernmit
ihren deutschen
Ehepartnern und
den Kindern ein „richtig tradi-
tionelles Weihnachtsfest.“ Nur
dieMusliminHaticeUrkaymißt
dem Weihnachtsfest keine Be-
deutung bei. „Ich würde darüber
nachdenken, schon Ihres Kin-
des wegen. Sie wächst hier auf
und könnte, wenn sie sich mit
ihren Altersgefährten unterhält,
etwasvermissen“,empfiehltKarl-
Jürgen Wilbert. „Weihnachten
ist schön, die Lichter wärmen
die Seele.“
DasvorweihnachtlicheGespräch
in der Handwerkskammer ist zu
Ende. Es war ein freundliches
und nachdenklich stimmendes
zugleich.Vielleichtwärmt es ein
wenig im Alltag.
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