Handwerk Special Nr. 65 vom 25. November 1998 - page 12

Aus der Handwerksrolle
Volksrepublik China ordert große Konzertorgel
bei der Orgelbauwerkstatt Gebr. Oberlinger
Orgelbaumeister gibt den Ton für ein ganzes Orchester in einem Instrument an.
Musikalisches Handwerk:
Sie gilt als die Königin
der Musikinstrumente.
Ein ganzes Orchester
vereint sie in sich, mal
mit zarten schwebenden Klängen,
mal stimmgewaltig und schmetternd im
Tutti: Die Orgel trägt zurecht diesen ho-
hen Titel und ist das wohl vielseitigste
Instrument überhaupt. Und dabei ist je-
des Exemplar ein wirklich einmaliges
Meisterstück. Denn die Disposition einer
Orgel, die Anzahl und Zusam-
menstellung der verschiedenen
Stimmen oder Register, und die
Intonation, also die Klangfarbe
und das Volumen des Registers, sind in-
dividuell auf den Raum abgestimmt, in
dem sie erklingt.
Bevor ein Organist zeigen kann, daß er
sein Handwerk am Spieltisch der Orgel
versteht, hat der Orgelbauermeister alle
Register seines handwerklichen Könnens
unter Beweis gestellt. Und das ist umfas-
send und abwechslungsreich: Holzverar-
beitung beim Bau von Orgelgehäuse,
Windladen und Holzpfeifen, Metallverar-
beitung für Mechanik und Metallpfeifen,
Kenntnisse in Elektrik, Pneumatik und
Mechanik, und ein gutes Gehör zumStim-
men der Pfeifen - bei einer größeren Orgel
sind das schnell 5.000 an der Zahl. Klein
dagegen ist dieZahl der inderHandwerks-
rolle eingetragenen Orgelbauer, es sind
ganze neun. Einer von ihnen ist Siegfried
Merten in Grafschaft-Gelsdorf, der sich
1995 unmittelbar nach seiner Meisterprü-
fung selbständig machte. 1977 schloß er
seine Lehre in einem 3-Mann-Betrieb in
Leverkusen ab, wechselte dann zuKlais in
Bonn, um, wie er es ausdrückt, „eine zwei-
te Lehre zu absolvieren“, denn die Ar-
beitsabläufe bei einem der größeren Or-
gelbauer in Deutschland gestalten sich
doch anders als im Kleinbetrieb. Merten
rückte auf in die Montageleitung mit
Schwerpunkt Intonation: „Ich finde es
noch reizvoller, am fertigen Instrument zu
arbeiten, als Pfeifen zu produzieren.“
Was vor zwei Jahren beim Besuch einer
chinesischen Delegation begann, ist nun
Realität: Die Windesheimer Orgelbau-
werkstattGebrüderOberlingerhatmitdem
Bau einer 50 Register-Orgel für den Sen-
desaal von „China National Radio“ (1500
Sitzplätze) in Peking begonnen. Bei einer
Reise mit dem damaligen Wirtschaftsmi-
nister Rainer Brüderle, die der wirtschaft-
lichen Zusammenarbeit zwischen China
und Rheinland-Pfalz diente, wurde der
Millionenauftrag perfekt gemacht.
Das traditionsreiche Handwerksunter-
nehmen (gegr. 1860) beschäftigt ca. 65
Mitarbeiter, darunter drei Lehrlinge. Die
Leitung liegt in Familienhand: Helmut
und Wolfgang Oberlinger sind beide Or-
gelbaumeister,dereinezusätzlichDiplom-
Betriebswirt, derandereDiplom-Ingenieur
(Architekt), beides ideale Ergänzungen
zur handwerklichenMeisterqualifikation.
Vor allem auf internationalem Parkett be-
wegen sich dieOberlinger’s souverän. Bis
1999 wird eine 44 Register umfassende
Orgel für dieHyechon-Universität inSüd-
korea fertiggestellt, für die St.-Petri-Kir-
che in Riga/Lettland ist bis 2001 eine
Großorgel mit 77 Register in Planung.
„Die Projekte sichern sehr viele hand-
werklicheArbeitsplätzeimstrukturschwa-
chen Raum Bad Kreuznach“, freut sich
Wolfgang Oberlinger.
Schon bald wird eine hochrangige chine-
sische Delegation aus Vertretern von Po-
litikundMediendieWindesheimerOrgel-
bauwerkstatt besuchen. Dabei werden die
Auftraggeber die ersten Arbeiten an der
bestellten Orgel besichtigen können.
Siegfried Merten Orgelbau,
53501 Grafschaft; West Orgelbau,
53505 Altenburg; Gebr. Oberlinger
Orgelbau, 55452 Windesheim;
Ulrich Matzenbacher Orgel- und
Harmoniumbau, 55545 Bad Kreuz-
nach; Rainer Müller Orgel- und
Harmoniumbau, 55571 Odernheim;
Friedrich Bergemann Orgelservice,
56068 Koblenz; Christian Gerhardt
Orgel- und Harmoniumbau,
56154 Boppard; Thomas Schmidt
Orgel- und Harmoniumbau,
56220 Kettig; Heribert Klein Orgel-
und Harmoniumbau, 56593 Ober-
steinebach
Als er 1991/92 bei der HwK Koblenz den
„Betriebswirt im Handwerk“ im Teilzeit-
kurs besuchte, hatte er bereits in Gelsdorf
seine Heimat gefunden - und dieWeichen
für Meisterprüfung und Selbständigkeit
gestellt. 1994 mußte er für ein Jahr aus
demBeruf heraus, um in Ludwigsburg die
Fachschule für Musikinstrumentenbau zu
besuchen. Zu seinem bisherigen Arbeit-
geber hielt erKontakt, konntedieBetriebs-
bibliothek und die Werkstatt für die Vor-
arbeiten zu seinem Meisterstück nutzen:
Eine kleine Orgel, die heute in einer Kir-
che in Friedrichshafen/Bodensee erklingt.
Für einen Meister mit dem Anspruch, das
gesamte Spektrum handwerklichen und
unternehmerischenKönnens abzudecken,
hatte Klais keinen Platz. Man trennte sich
Orgelbauer Merten: 1. Lehrling drei Jahre nach Existenzgründung
Bieter sein.“ Die getane Arbeit ist die
besteEmpfehlung.Restaurierungen-meist
aufwendig und anspruchsvoll wie ein
Neubau, allerdings unter Verwendung hi-
storischer Teile - bringen regelmäßige
Wartungen und Stimmungen, der Name
zieht Kreise. Schon im März 1996 reich-
ten die Aufträge für die Einstellung eines
ersten Gesellen, Anfang 1998, nur drei
Jahre nach dem Einstieg in den Markt,
stellte sich die Frage nach der Ausbil-
dung. „Wichtigstes Kriterium war für
mich“, so Merten, „daß ein Lehrling bei
uns das ganze Spektrum des Orgel-
bauerhandwerks kennenlernen
kann.“ Das ließ die Auftragslage
jetzt zu. Da sich die Arbeit des
Orgelbauers oft draußen, meist
in Kirchen abspielt, die Mitarbeiter also
viel unterwegs sind, stellte Merten zu-
nächst noch einen zweiten Gesellen ein,
bevor er in der HwK-Lehrstellenbörse in-
serierte. „Wir übernehmeneinegroßeVer-
antwortung, wenn wir einen Lehrling ein-
stellen. Wenn wir zu dritt sind, ist immer
jemand zur Stelle, um dem ‘Neuen’ sein
Handwerk beizubringen.“ Mit Eric Seidel
aus der Grafschaft stieg also der vierte
Mann und erste Lehrling ins Boot des
noch jungen Orgelbaubetriebes.
Von guten Erfahrungen weiß Merten aus
der Phase der Existenzgründung zu be-
richten: Neben Informationen durch die
HwK-Betriebsberatung über mögliche
Hilfen erwies sich seine Hausbank als
gewieft in allen Finanzierungs- und
Förderprogrammen. Unterstützung findet
er auch in seiner Ehefrau Gabriele, die als
Personalsachbearbeiterin in einer Bonner
Institution in Büroangelegenheiten firm
ist. Nach dem geglückten Start in die
Selbständigkeit bleibt für den Meister in
Diensten der „Königin der Instrumente“
ein großes Ziel: Sein Opus 1, der erste
größereNeubaueinerOrgel. Einmal schon
hat er seine Handwerkskunst repräsenta-
tiv plaziert. Neben der neuen großen Or-
gel im Kölner Dom erhebt eine Truhen-
orgel aus seiner Werkstatt ihre Stimmen,
um den Domchor zu begleiten - auch
wenn dieser auf Tournee geht.
Orgel- und Harmonium-
bauer im Kammerbezirk
als Kollegen, und Merten eröff-
nete zum 1.1.1995 in Gelsdorf
seine eigene Werkstatt. Sein er-
ster Auftrag: Die Restaurierung
einer kleinen Orgel. - Wie be-
hauptet sich ein Alleinunterneh-
mer gegen die Konkurrenz der
„Großen“? „Der erste Schritt ist
die Möglichkeit zur Arbeit, und
ich hatte schnell meinen ersten
Auftrag“, sagt der Orgelbauer-
meister. „Wenn ich sehr gute
Arbeit leiste, spricht sich das
herum, und wenn das Preis-
Leistungsverhältnis stimmt,muß
ich nicht einmal der billigste
Die mechanische Spiel-
traktur verbindet Tasten
und Pfeifenventile über
dünne Holzlättchen.
Handwerksmesse 1995 - Forum für Exi-
stenzgründer. Orgelbaumeister Siegfried
Merten präsentiert eine Truhenorgel.
Orgelbau ist Präzisionsarbeit
von Hand: Mit Naturleim be-
festigt Lehrling Eric Seidel
Filzstreifen zur Dämmung an
den Pedalenden.
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