Handwerk Special Nr. 100 vom 1. September 2004 - page 20

In Handwerk special ist es zu einer guten Tradition gewor-
den, dass sich Prominente aus Politik, Gesellschaft, Wissen-
schaft und Kultur exklusiv zu Fragen äußern, die die
Menschen bewegen. Nach dem Kölner Kardinal Meisner,
dem früheren Chef der New Yorker Philharmonie Kurt
Masur, dem Schauspieler Mario Adorf und dem Bischof
von Trier Prof. Dr. Reinhard Marx, befragten wir
aktuell den Ratsvorsitzenden der Evangelischen
Kirche in Deutschland, Prof. Dr. Wolfgang
Huber.
Herr Bischof Dr. Huber, worin sehen Sie
Ihre Hauptaufgabe als Ratsvorsit-
zender der Evangelischen Kirche
in Deutschland?
Meine Hauptaufgabe besteht
darin, das Evangelium, den
christlichen Glauben und den
Auftrag der Kirche den Men-
schen verständlich zu machen
und nahe zu bringen. Der Rats-
vorsitzende vertritt die evange-
lische Kirche in der Öffentlich-
keit. Er hat eine besondere Ver-
antwortung für die Beziehung
zur katholischen Kirche. Als
Ratsvorsitzender der EKD ste-
he ich einem Leitungsgremium
mit fünfzehn Mitgliedern vor.
Hier werden wichtige Entschei-
dungen der evangelischen Kir-
che zunächst im Inneren bera-
ten, bevor sie nach außen ver-
mittelt werden. Der Ratsvorsit-
zende ist auch Vorsitzender der
Kirchenkonferenz, in der alle
23 Gliedkirchen der EKD ver-
treten sind. Hier sorgen wir da-
für, dass in den gemeinsamen
Entscheidungen die besonderen
Belange der Gliedkirchenwahr-
genommen werden.
Wo setzen Sie Prioritäten?
Es gibt drei: erstens mitzuwir-
ken, die Ausstrahlung unserer
Kirche zu verstärken und die
Aufmerksamkeit auf die mis-
sionarische Situation und die
daraus erwachsendenAufgaben
zu lenken; zweitens dazu beizu-
tragen, dass die Kirche Antwor-
ten auf Schlüsselfragen der
menschlichen Gesellschaft gibt
und drittens dafür einzutreten,
dass die evangelische Kirche
dafür die erforderlichen Struk-
turen entwickelt.
Eine erste Bilanz?
Die Stimme der Kirche wird
nachgefragt. Sie ist aufgefor-
dert, auf Fragen unserer Zeit
einzugehen sowieHoffnungund
Orientierung zu vermitteln. Es
besteht eine hohe Erwartung,
dass die Kirche zu Angelegen-
heiten, die die Menschen bewe-
gen, Stellung bezieht. So in
jüngster Zeit zum Kopftuch-
verbot für beamtete Lehrerin-
nen, zumThema Sterbehilfe, zu
neuen Herausforderungen, be-
dingt durch die Entwicklungen
der Lebenswissenschaften, aber
auch zu Fragen alltäglichen
Verhaltens und Umgangs mit-
einander.
Laut einer Focus-Umfrage
glauben zwei Drittel der Be-
völkerung, dassGott existiert.
Trotzdem ist die Zahl der Kir-
chenaustritte hoch. Kirchen
stehen vor dem Verkauf oder
Abriss. Wie halten es die
Deutschen mit der Religion?
Die Zahl der Kirchenaustritte
nimmt ab, sie sit niedrieger als
Mitte der 90er Jahre. Vergli-
chen mit allen anderen gesell-
schaftlichen Bereichen ist die
Stabilität der Kirchenmitglied-
schaft das eigentlich Bemer-
kenswerte. Natürlich wünsche
ich mir mehr Taufen als Beerdi-
gungen, dagegen spricht aber
die demografischeEntwicklung
inDeutschland. Sie ist die Ursa-
che für den Rückgang der abso-
luten Zahl von Kirchenmitglie-
dern. Auch der Abriss von Kir-
chen ist keineswegs ein Phäno-
men unserer Zeit. Gerade im
Osten Deutschlands sind in den
letzten Jahren viele Kirchenge-
bäude instand gesetzt worden,
die in 40 JahrenSED-Herrschaft
vernachlässigt wurden. Allein
im Land Brandenburg gibt es
über 1.350Kirchengebäude. Die
Zahl der Fälle, in denen man
sich entschlossen hat, Kirchen-
gebäude abzugeben, kann man
an einer Hand abzählen.
Soziologen, Politiker und
Kirchenvertreter meinen,
dass derzeit in Europa eine
Abkehr von der Institution
Kirche stattfindet. Bei den
Menschen machen sie eine
gewisse Leidenschaftslosig-
keit aus. Die Kirche verliert
ihre Breitenwirkung. Was
läuft schief?
Wir beobachten in Deutschland
eine Abkehr von den Institutio-
nen überhaupt. Hinzu kommt
ein Desinteresse vieler Men-
schen an ihrer Mitverantwor-
tung im Gemeinwesen. Zur Re-
ligion gehört der Gemein-
schaftsaspekt. Sie einigt eine
Vielzahl von Menschen. Ein
Lebensgefühl, das in den letz-
ten Jahrzehnten mit dem Stich-
wort Individualisierung be-
schrieben worden ist, hat wich-
tige Voraussetzungen gemein-
samen Lebens in Frage gestellt.
Ich bin aber von der Hoffnung
bestimmt, dass dieser Trend sich
ändert. Menschen werden wie-
der lernen, dass Freiheit und
Verantwortung zusammenge-
hören, dass Individualität und
Leben in Gemeinschaft zwei
Seiten ein und derselben Me-
daille sind.
Die Menschen wünschen
sich Religion als Seelenent-
lastung, als Entspannung.
Gerät der Gott der Bibel ins
Hintertreffen?Brauchenwir
eine Wellness-Religion?
Kirche
geht auf
die Men-
schen zu –
Bischof
Dr. Wolf-
gang Hu-
ber (M.)
im Ge-
spräch mit
Jugendli-
chen vom
Gymnasi-
um in
Luckau.
Professor Dr. Wolfgang Huber ist Bischof der Evangeli-
schen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlau-
sitz. Im November 2003 wurde der Theologieprofessor
zum Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche
in Deutschland (EKD) und somit zum ersten Repräsen-
tanten von 26 Millionen Protestanten gewählt.
Dr. Huber ist 1942 in Straßburg geboren und wuchs im
Schwarzwald auf. Seit 1966 ist er mit der Lehrerin Kara
Huber verheiratet. Er ist Vater von drei erwachsenen
Kindern: Ansgar (Sozialpädagoge), Jesco (Jurist) und
Valeska (Historikerin).
Zur Person
Ausgabe 38
Themen damals: „Wir
haben uns nicht so
sehr in der Gemütlich-
keit der Welt einzu-
richten“, fordert die
erste lutherische
Bischöfin der Welt
Maria Jepsen im
Interview. Außerdem
geht es in der Ausgabe
um heimische
Baustoffe, wie Basalt
und Basaltlava aus den Westerwälder Bergen, die
im In- und Ausland begehrt sind. Erzählt wird die
Geschichte des Spießbratens aus Idar-Oberstein,
der in einem Atemzug mit Schmuck und Edelstei-
nen genannt wird. Die Jugend feiert das erste
Sekundar-I-Fest beim Handwerk und Handwerks-
senioren berichten, wie schön das Gefühl ist noch
gebraucht zu werden.
8. Juni 1994
Viele Menschen wollen sich in
derReligion in einerWeisewohl
fühlen, wie sie das auch ohne
Religion tun. Das kann aber
nicht der Sinn eines biblisch
bestimmten Glaubens sein. Der
Gott des Alten und Neuen Te-
stamentes bietet Freiheit, aber
keine Beliebigkeit, er fordert
Verantwortung, nicht Desinter-
esse. Der christliche Glaube ist
keine Entlastungsstrategie für
Menschen. Aber die Hoffnung
der Menschen auf Glücklich-
sein in einem tieferen Sinn, als
ihn der Wellnessbereich eines
Hotels bietet, diese Hoffnung
ist ja eine durch und durch bi-
blische Hoffnung. Das Alte Te-
stament hat schon grundlegen-
de Zusagen Gottes zum Inhalt:
Segen und Rettung aus Unfrei-
heit. ImZentrumdesNeuenTes-
taments stehen die Seligpreisun-
gen als Zusagen des Glücks.
Exklusiv-Interview mit Bischof Professor Dr. Wolfgang Huber, Vorsitzender des Rates der Evangeli
Verantwortung und Respekt statt Welln
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