Handwerk Special Nr. 76 vom 16. August 2000 - page 19

Auch wenn die Vorschläge,
die die Kammer für ein So-
fortprogramm zur Stär-
kung des Handwerks un-
terbreitet hatte, nicht um-
gehend verwirklicht wer-
den: Erleichterung bringt
eine Novelle zur Reichsge-
werbeordnung, die der
Reichstag gegen die Stim-
men der KPD verabschie-
det. Die Novelle sichert die
Zuständigkeitsbereiche von
Kammern und Innungen
ab und erweitert sie.
Bäckerhandwerk
3,1 Millionen Brötchen werden
monatlich in den Backstuben der
Lohner’s gebacken.Wo bleibt da
das Handwerk? „Kein Problem“,
meint Joachim Lohner und führt
seine Gäste zu einem Fenster in
seinemArbeitszimmer. Von dort
kannman die gesamteBackstube
überblicken und stellt erstaunt
fest, dass dort nicht auf langen
Fließbändern Brötchen vorbei-
schaukeln, sondernHand inHand
der Teig von Gesellen und Bäk-
kermeistern verarbeitet wird.
„Natürlich setzen auch wir über-
alldortmodernsteMaschinenein,
wodieQualitätderProduktenicht
darunter leidet und die Arbeit
erleichtert wird“, erklärt der Be-
triebsleiter. Doch viele Backwa-
ren verlangen einfach das Kön-
nen traditioneller Handwerks-
kunst, ohne das geht es auch in
der Großbäckerei nicht.
Käufertrends erkennen
Umauchweiterhin für hoheQua-
lität garantieren zu können, bil-
den sich die Mitarbeiter des Un-
ternehmens ständig fort. Ein spe-
zieller Seminarraum wurde im
Polcher Haupthaus eingerichtet.
Dort finden regelmäßigSchulun-
gen statt, denn bei einer so gro-
ßen Backstube wie sie die Loh-
ner’s führen, braucht es schon
einige besondere Kenntnisse in
der Produktion. Auch die Bäcke-
reifachverkäuferinnen kommen
hier zusammen, berichten über
neueste Käufertrends, die man
bei den Lohner’s sorgfältig be-
obachtet, auf die man reagiert.
Von der Groß-
bäckerei auf dem
Weg zur Filiale - und
von dort zum Kun-
den, dargestellt von
Johannes Zoch.
Günter Geisbüsch ist seit 12
Jahren Obermeister der Bäk-
ker-Innung Mayen (38
Mitgliedsbetriebe).
Der 1939 geborene Bäckermei-
ster betreibt sein Unternehmen
in der Mayener Innenstadt, zu
dem eine Backstube mit drei
Mitarbeitern (1 Meister, 1 Ge-
selle, 1 Lehrling) sowie ein
Café zählen. In Spitzenzeiten
werden bis zu 15 Mitarbeiter
beschäftigt. Das 1865 gegrün-
dete Unternehmen steht heute
mit Sohn Thomas, der Bäcker-
sowie Konditormeister ist, in
der fünften Generation.
Wie beurteilt der Obermeister
den Konsolodierungsprozess im
Bäckerhandwerk und die Ent-
wicklung des Filialnetzes?
Geisbüsch:
Diese Entwicklung
stellt ganz klar ein Problem für
die kleinen Bäckerunternehmen
dar, denn es wird mit mehr
Betrieben nicht mehr Brot
verkauft, sondern nur der Ver-
kauf umverteilt. Für den „klei-
nen Bäcker vor Ort“ sprechen
die Kundennähe, die Frische
wie auch die Flexibiltät auf
Kundenwünsche durch den
persönlichen Kontakt.
Welche Vorteile, welche Nach-
teile ergeben sich aus der
Filialisierung?
Die Vorteile liegen in der Kos-
tensenkung der Produktion, die
Nachteile in den steigenden
Kosten durch Fuhrpark, Logis-
tik und Miete. Wer diesen Weg
wählt, ist quasi zum weiteren
Wachstum verdammt. Und: Die
Verhältnismäßigkeit zwischen
Einkauf der Rohstoffe,
Dimensionierung der Produkti-
onsstätte und Absatz muss
absolut stimmen.
Spüren Sie die Konkurrenz
durch einen handwerklichen
Großbetrieb wie „Die Loh-
ner´s“? Wie beurteilen Sie die
Arbeit solcher Unternehmen?
Die Konkurrenz ist natürlich
spürbar, auch weil die Produkte
von Joachim Lohner gut sind.
Ich kenne ihn, er ist Mitglied
unserer Innung und ich schätze
seine Arbeit.
Wird die Expansion einzelner
Bäcker zur Monopolstellung
führen? Welche Konsequenzen
hätte das für den Verbraucher?
Ich sehe keine Gefahr durch
Monopolisierung. Deutschland
ist Weltmeister im Brotver-
brauch, der Kunde ist durch die
Qualität und Vielseitigkeit
verwöhnt. Stellen Sie sich vor:
Sie gehen zu ihrem Bäcker, und
dort liegt nur ein Einheitsbrot
mit Einheitsgeschmack. Das
wäre doch ein Grund, das Lieb-
lingsbrot nun anderswo zu
kaufen. Nachteile für den Ver-
braucher kann ich also zur Zeit
nicht sehen.
Einige Großbäckereien - das
bekannteste Beispiel ist die
börsennotierte Kamps AG –
betreiben eine konsequente
Ausweitung des Filialisierungs-
geschäfts im In- und Ausland –
und sind damit sehr erfolg-
reich. Wie sehen Sie diese Su-
perlative als Betreiber eines
Geschäftes?
Kamps ist in meinen Augen ein
Riesenluftballon. Die Aussage
„verdammt zum Wachstum“
kann treffender nicht belegt
werden. Das Ergebnis einer
solchen Entwicklung, die eine
Vermischung handwerklicher
und industrieller Backwaren
beinhaltet, sehe ich eher skep-
tisch. Nur Größe und Expansi-
on ins Ausland überzeugen
mich nicht, denn mancher Bäk-
ker in einem kleinen Eifelort
steht wirtschaftlich im Pro-
Kopfumsatz besser da als viele
Groß- oder Stadtbäckerei. Hier
entscheidet nicht die Quantität,
sondern die Qualität und das
Eingehen auf oft ganz individu-
elle Kundenwünsche.
Rolf Weidmann, Volkswirt bei der HwK Koblenz, über Entwicklungen und Konsequenzen im Bäcker-
handwerk
Marktveränderungen im Bäckerhandwerk sind of-
fensichtlich. Filialbetriebe und Verkaufsstellen be-
herrschen das Straßenbild nicht nur in Großstätten.
In ländlichen Regionen trifft man vielerorts auf den
fahrenden Bäcker. Was ist geschehen? 1975 exi-
stierten im nördlichen Rheinland-Pfalz noch 1.232
selbständige Bäckereien mit einer Handvoll Filia-
len. Heute registriert die HwK 585 Bäckereien. Das
entspricht einem Rückgang von 53 Prozent. Im
selben Zeitraum sind aber die Beschäftigten um 25
Prozent gestiegen. Weniger, dafür größere Bäcke-
reien sind das Ergebnis.
Höhere Produktivität der modernen Backtechniken
und steigender Kapitaleinsatz zwangen die Bäcker,
ihre Produktionsabläufe zu optimieren. Die Tren-
nung von Produktion und Verkauf war die Lösung.
Fragen zur Betriebserweiterung, Planung und Finanzierung? Die
HwK-Betriebsberatung informiert: Tel.: 0261/398-241, Fax: -994.
Um Produktionseinheiten wurden in logistisch ver-
tretbaren Entfernungen Verkaufsstellen angeord-
net.
DieKonzentration imBäckerhandwerkwurde durch
die Nachfolgeproblematik verstärkt. Ertragsschwa-
che oder Bäckereien mit hohen Immobilienwerten
fanden keine Nachfolger. Die entstandenen Versor-
gungslückenwurdenvonKonkurrenzbetriebengeschlos-
sen.
Ist im Bäckerhandwerk mit einer
vergleichbaren Entwicklung wie im
Lebensmitteleinzelhandel zu rech-
nen? Nein, so die HwK Koblenz. Wie jetzt schon
sichtbar werden sich drei Grundformen herausbil-
den: Bundesweit operierende Großbäckereien; mitt-
lereBäckereienmitregionalenAbsatzgebieten,über-
schaubaren Filialnetzen und regionalen Spezialitä-
ten und kleinere Bäckereien mit örtlichen Traditio-
nen und hohem Stammkundenanteil.
1929: Reichstag verabschiedet Novelle zur Reichsgewerbeordnung.
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