Handwerk Special Nr. 65 vom 25. November 1998 - page 25

Mittelstand in Deutschland verdient es, stärker gefördert zu werden
Exklusiv-Interview:
Das Gewandhausorchester zu Leipzig
unter Professor Kurt Masur spielt Beet-
hovens Neunte Sinfonie. Weltbekannte
Chöre, darunter Thomaner- und Kreuz-
chor, singen Schillers Ode „An die Freu-
de“. Der letzte Akkord verklingt. Die
Zeit steht einen Moment still. Ein unbe-
schreibbarer Zauber zwischen Nachdenk-
lichkeit und Hoffnung erfüllt den Raum.
„Ich habe soeben einen Staat in die Ge-
schichte verabschiedet“, erinnert sich Lo-
thar de Maizière an den Abend des 2.
Oktober 1990 im Schauspielhaus amBer-
liner Gendarmenmarkt. Aufgeregt sei er
damals gewesen und beim Aufziehen der
Flagge auf dem Reichstag ein wenig er-
griffen, sagt er, denn „in jedem Neuan-
fang steckt auch ein Abschied und der
sollte würdevoll sein.“ Schließlich habe
dieser Staat, dessen erster frei gewählter
und zugleich letzter Ministerpräsident er
war, seine Würde wieder erlangt, als er
sich selbst befreite und dieDemokratie die
Diktator ablöste. Außerdem ist und bleibt
er Teil seiner Biographie.
Handwerk special trifft Lothar deMaizière
fast auf den Tag genau acht Jahre später in
Gedanken nach acht Jahren Wiedervereinigung: Lothar de Maizière, letzter DDR-Ministerpräsident
stems gelöst. Per Knopfdruck die Mark-
wirtschaft einzuführen, erwies sich aller-
dings weit schwieriger. So ist die Frage
der Eigentumsregelung an Grund und Bo-
den nachwie vor problematisch. Es wurde
auch versäumt, gezielt einen Mittelstand
in Ostdeutschland aufzubauen und über
einen längeren Zeitraum finanziell zu för-
dern.“ Zwar habe es über 1,3 Millionen
Existenzgründungen in den letzten Jahren
gegeben, aber auch über 50 Prozent Kon-
kursraten. „Die Eigenkapitalausstattung
der kleinen und mittleren Unternehmen,
der Kapitalstock imUnternehmen und die
liquiden Mittel waren zu gering. Häufig
gehen die Unternehmen nicht an Über-
schuldung und fehlerhaftemManagement
zugrunde, sondern daran, daß sie Liquidi-
tätslückennicht überbrückenkönnen, auch
bedingt dadurch, daß die öffentliche Hand
Riesenaufträge vergibt und diese dann
nicht bezahlen kann. Die Gläubiger wer-
den auf das kommende Wirtschaftsjahr
verwiesen, das Geld bekommt dann aber
nicht mehr der Handwerker, sondern der
Konkursverwalter“, ergänzt er.
„Überschätzt haben wir aber vor allem
dieBelastbarkeit derMenschen, die völlig
neuenLebensumstände kurzfristig zumei-
stern.Wieviel Änderungen kann ichMen-
schen zumuten, ohne daß sie den Halt
verlieren und das Gefühl haben, die Welt
wäre plötzlich ohne Leitplanken und Ge-
länder?“, sagt er nachdenklich.
Fiel es Lothar de Maizière nach seinen
historischen Leistungen in der Politik
schwer, der Macht nach kurzer Zeit als
Minister in der Regierung von Bundes-
kanzler Dr. Helmut Kohl wieder „Leb-
wohl“ zu sagen? „Ich habe mein Amt
niedergelegt, nachdem mir unterstellt
der Rhein-Mosel-Stadt. Er wirkt auffal-
lend bescheiden, derMannmit der schlan-
ken Figur, der leisen Stimme, den kontrol-
lierten Bewegungen. Machtstreben paßt
eigentlich nicht zu seiner Person. Was
trieb ihn eigentlich dazu, den Rechtsan-
walt Lothar de Maizière, sich im Novem-
ber ’89 für die DDR in die Pflicht nehmen
zu lassen? „Seit Mitte der 80er Jahre war
ichVizepräses der Synode des Bundes der
evangelischen Kirchen. Eine unserer For-
derungen war, daß das Herrschaftsmono-
pol der SED gebrochen wird und Christen
an der öffentlichen Verantwortung teil-
nehmen können. Als die Mauer fiel, war
es für mich deshalb selbstverständlich,
den Neuaufbau in unserem Land aktiv
mitzugestalten. Ich verstehe Politik als ho-
he Pflicht“. In seinen Gesichtszügen läßt
sich bei genauemHinsehen Entschlossen-
heit und Durchsetzungskraft absehen.
Rückblicke
Nach derWende startete die Ost-CDUmit
ihm als Vorsitzenden den Neuanfang. Er
gewann die Volkskammerwahl 1990 und
wurde letzter DDR-Ministerpräsident vor
der Vereinigung. Er führte mit der Bonner
Regierung die Verhandlungen über die
Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion
und den Einigungsvertrag.
„Wichtig war zuerst die Wiederherstel-
lungderLänder in ihrenhistorischenGren-
zen. Die SED hatte den Menschen ihre
geschichtliche Identität geraubt, und ein
Volk ohne Geschichte wird gesichtslos“,
denkt Lothar de Maizière zurück. „Kom-
plikationslos haben wir damals die Neu-
gliederung der Verwaltung in den Län-
dern, die Einführung eines rechtsstaatli-
chen System und eines neuen Schulsy-
wurde, ich sei Mitarbeiter der Staatssi-
cherheit der DDR gewesen. In solch einer
Situation fragt man sich, wieviel innere
Kraft ist vorhanden, um derartigen An-
feindungendauerhaftwiderstehen zukön-
nen. Auch fühlt man, daß sich die Freun-
de, die einem den Rücken stärken, merk-
lich verringern. Natürlich war ich damals
enttäuscht. Dennoch spüre ich heute noch
den Glanz des Sieges. Ich habe in den
Jahren 1989/1990 so unglaubliche
Gestaltungsräume gehabt und soviel be-
wegen dürfen wie nur wenige Politiker.
Die Genugtuung, an einem Jahrhundert-
werkwie der Einheit Deutschlands mitge-
wirkt zu haben, überwiegt den mir an-
getanen Schmerz“.
Öffnung der CDU
Heute plädiert der letzteDDR-Premier für
„die Öffnung der CDU gegenüber den
Funktionseliten der DDR“. Anstatt sie ein-
zubinden, habe die Union sie mit ihrem
„platten Antikommunismus ins PDS-
Ghetto getrieben“. „InmeinenAugen sind
die Erfolge der PDS in den neuen Ländern
keineswegs Ergebnis großartiger Arbeit
dieser Partei, sondern vielmehr Reflex auf
den falschen Umgang mit der DDR-Ge-
schichte. Die PDS profitiert von demWi-
derstand, den große Teile der ehemaligen
DDR-Bevölkerung einemGeschichtsbild
entgegensetzen, in dem ihr Leben der letz-
ten 40 Jahre als Irrtum abgetan und als
Fehlverhalten verunglimpft wird“, kom-
mentiert Lothar de Maizière das Wahler-
gebnis dieser Partei. „Die Menschen im
Osten wollen nach Jahrzehnten der Dikta-
tur wissen, wie funktioniert eine Demo-
kratie als Lebensform des Volkes. Dabei
entstehen spannende Fragen, beispiels-
weise nach dem Verhältnis von Macht
undRecht, aber auchdanach,wieviel gren-
zenlose Freiheit der Mensch eigentlich
ertragen kann? Das hat in vielen die Suche
nachGeborgenheit, nach vertrauter, wenn
auch verhaßter Biographie ausgelöst.“ Im
übrigen sei die Bundestagswahl 1998 ent-
gegen vereinzelter Behauptungen nicht
im Osten entschieden worden. „Das ist
schon reinmathematisch falsch. Entschei-
dend für den Wahlausgang war die „fast
emotional zu nennende Stimmung: Wir
wollen denWechsel“, schätzt deMaizière
ein.
Acht Jahre nach der Wiedervereinigung
heißt es, die Ostdeutschen sind ungedul-
dig und unbescheiden geworden. Stimmt
das, Herr deMaizière? „Die Ostdeutschen
waren 40 Jahre lang bescheiden in der
Lebensführung. Ichmeine, daß ihnen des-
halb in bestimmten Punkten eine gewisse
Unbescheidenheit zuzubilligen ist. Sicher
hat ihre Meinung, die Gleichheit der Le-
bensverhältnisse ließe sich in wenigen
Jahren herstellen, zu einer unerfüllbaren
Erwartungshaltunggeführt.Dennochwird
die Tatsache, daß für die gleiche Arbeit
nach wie vor nur knapp 80 Prozent des
Lohnes der alten Bundesländer gezahlt
wird, moderat und beinahe klaglos hinge-
nommen. Der Westen hat immer noch
nicht erkannt, welche gewaltigen Anpas-
sungsleistungen die Menschen im Osten
eigentlicherbringenmußten.Zeitraumund
Kosten der Einigung wurden von beiden
Seiten falsch eingeschätzt.Daswirkte sich
motivationshemmend für den Osten aus
und führte imWesten zu der Meinung, die
Ostdeutschen seien nicht fleißig genug.
Wir müssen lernen ost- und westdeutsche
Unterschiede in Toleranz zu akzeptieren.
Zukunftsvisionen
Welche Visionen verbindet er mit der Zu-
kunft Deutschlands? „Ein gelobtes Land
gibt es nicht, aber die Vision eines Weges
dorthin bewahrt dieGesellschaft vorWer-
teverfall, Pragmatismus und Kälte. Das
geeinte Deutschland muß seine Veranke-
rung in Europa stabilisieren und daraus
resultierend seine Aufgaben in Richtung
Osteuropa wahrnehmen.“
Sich selbst sieht er sowohl als „prag-
matischen Realisten“ als auch als „musi-
schen Idealisten“. Für den Rechtsanwalt,
der Musik studierte und Bratsche spielt,
gibt es heute „kaum ein größeres Glück,
als in einem Streichquartett dabei zu sein.
Es gibt keinen ’Verweile doch, du bist so
schön Glücksaugenblick’, sondern jedes
Lebensalter birgt andereGlücksgefühle in
sich“. Freude definiert er als eher „stilles
Gefühl“. Laute Töne liegen ihm nicht. Er
sieht sich selbst „als Mann in der zweiten
Reihe“, ähnlich dem Platz, den er im Or-
chester einnimmt. „Die Bratsche ist sicher
nicht daswichtigste Instrument, aber ohne
sie ist der Klang nicht vollkommen.“ Ei-
nen Traum, den er schon zu DDR-Zeiten
hatte, verrät er zum Abschluß. Er möchte
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