Handwerk Special Nr. 70 vom 29. September 1999 - page 6

Im Interview:
Handwerk ist längst keine Männerdomäne mehr: Frauen behaupten sich hier meisterlich.
Die Politik ist in Bewegung und die
Wirtschaft ist inBewegung. Bei der Kon-
junktur mehren sich die Hinweise auf
eine Belebung, aber der Arbeitsmarkt
stagniert weiterhin. Handwerk special
sprach mit dem Koblenzer Bundestags-
abgeordneten und Handwerkskammer-
präsidenten Karl-Heinz Scherhag über
die aktuelle Politik und notwendige Im-
pulse für den Mittelstand.
Hat sich das Arbeitsklima nach dem
Umzug des Bundestages nach Berlin
für Sie verändert?
Scherhag:
Es hat sich insofern verän-
dert, als ichwährend der Sitzungswochen
des Bundestages zeitlich zusammenhän-
gend in Berlin bin. Dadurch ist mir ein
nochkonzentrierteres parlamentischesAr-
beiten möglich. Insgesamt sind die parla-
mentarischen Arbeitsbedingungen und
das Arbeitsklima in Berlin nicht schlecht.
Ein Jahr Rot-Grün. Sind die Rahmen-
bedingungen für den Mittelstand bes-
ser geworden?
Scherhag:
Leider nicht. ImGegenteil:Das
von der BundesregierunggeplanteSteuer-
entlastungsgesetz bürdet demMittelstand
und damit auch dem Handwerk zusätzli-
che Abgaben auf. Die vorgesehene Net-
to-Entlastung soll von den Unternehmen
selbst gegenfinanziert werden. Hiervon
unabhängig soll der Mittelstand vorgese-
hene Entlastungen für andere bezahlen.
Dies wird zu Mehrbelastungen des Mit-
telstandes führen. Beispiele dafür sind
die 630-Mark-Jobs und die Schein-
selbständigkeit. Schlecht für die Wirt-
schaft und den Mittelstand war auch die
Hektik der Gesetzgebung des ersten Jah-
res der Regierungskoalition und das stän-
dige Nachbessern von Gesetzen. Das hat
verunsichert und Investitionen verhin-
dert statt zu fördern. Viele Betriebe ha-
ben erst einmal abgewartet.
Ihre Meinung zu dem Sparpaket von
Finanzminister Eichel?
Scherhag:
Dass bei den öffentlichenHän-
den und auch im Bund gespart werden
muss, steht außer Frage. Wir können un-
seren Kindern keinen immer höheren
Schuldenberg hinterlassen. Der Staat
muss handlungsfähig bleiben. Das Spar-
paket ist ein richtiger Ansatz, aber es löst
in der vorgelegten Fassung die Probleme
nicht. Bis jetzt handelt es sich eher um ein
Sammelsurium unzusammenhängender
Einzelmaßnahmen. Vor allem fehlt wei-
terhin ein zukunftsweisendes, ver-lässli-
ches Konzept, wie die Steuer- und Ab-
gabenlast insgesamt verringert werden
kann. Ich hoffe, dass bei den Beratungen
im Bundesrat das Sparpaket in Richtung
auf mehr Investitionen und Arbeitsplätze
noch verbessert werden wird.
Können steigende Ökosteuern die Pro-
bleme der Alterssicherung und der
hohen Arbeitskosten lösen?
Scherhag:
Ökosteuern mit dieser Ziel-
richtung sind ein Irrweg. Die Menschen
erwarten von der Politik eine tragfähige
Antwort zur Zukunft der Alterssicherung.
Dies kann nicht die teilweise Finanzie-
rung der künftigen Renten aus der Steuer-
kasse sein und auch nicht die Bestrafung
der erforderlichen größeren Eigenverant-
wortung für die Alterssicherung durch
eine Besteuerung der Kapitallebensver-
sicherungen und die Halbierung des
Sparerfreibetrages. Ähnliches gilt für die
im internationalen Wettbewerb zu hohen
Lohnzusatzkosten. Die bereits eingeführ-
ten und geplanten Ökosteuern sind auch
nicht wettbewerbsneutral. Sie sind für
den Mittelstand besonders belastend.
Berührt die neue 630-DM-Job-Rege-
lung auch das Handwerk?
Scherhag:
Sie berührt das Handwerk er-
heblich. Die Ladenhandwerke benötigen
Aushilfskräfte für Spitzenzeiten und zur
Abfederung
von
Auslastungs-
schwankungen. Das gilt etwa für Bäcker,
Fleischer und Friseure. Besonders auch
die Gebäudereiniger sind auf 630-Mark-
Beschäftigte angewiesen. Als Folge der
gesetzlichenNeuregelung ist die Zahl der
an diesen Arbeitsplätzen Interessierten
drastisch zurückgegangen. Viele sagen:
Das lohnt sich für mich nicht mehr. Dies
alles ist für den Arbeitsmarkt und das
Handwerk gleichermaßen kontraproduk-
tiv. Die fleißigen Arbeitnehmer werden
bestraft. Deshalb muß diese Regelung
wieder geändert werden. Das Handwerk
ist dazu gesprächsbereit.
Wie bewerten Sie die neu entbrannte
Diskussion über den Ladenschluss?
Scherhag:
Das Thema ist zuletzt medien-
wirksam hochgespielt worden. Es gibt
Gründe für und gegen eine weitere Libe-
ralisierung des Ladenschlusses. Darüber
wird auch im Handwerk diskutiert. Zu-
nächst sollte das Gutach-
ten des Ifo-Instituts über
dieAuswirkungen der letz-
ten Liberalisierung des
Ladenschluss-gesetzes ab-
gewartet werden. Dieses
Gutachten soll im Oktober
vorliegen. Dann wird man
neu prüfen und gegebenen-
falls neu entscheiden müssen. Ich sage
aber deutlich, dass ich sowohl gegen eine
Aufhebung des Ladenschlussgesetzes als
auch gegen eine zusätzliche Freigabe des
Sonntagsverkaufs bin.
Wie sieht es aktuell auf dem Lehr-
stellenmarkt aus?
Scherhag:
Im Handwerkskammerbezirk
Koblenz haben wir bei den Neueinstel-
lungen in diesem Jahr bisher ein leichtes
Plus. Das ist auch deshalb sehr erfreulich,
weil das Handwerk im Kammerbezirk
die Zahl der Lehrlinge in den letzten
Jahren in jedem Jahr gesteigert hat. Wir
wollen jedem am Handwerk interessier-
ten ausbildungswilligen und ausbildungs-
fähigen Jugendlichen einenAusbildungs-
platz zur Verfügung zu stellen. Das hat
das Handwerk im Kammerbezirk bisher
erreicht und ich bin davon überzeugt,
dass uns dies auch in diesem Jahr wieder
gelingen wird.
Die Fragen stellten
Manfred Dietrich und Rolf Weidmann
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