Handwerk im Winter vom 9. Dezember 2000 - page 7

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Wenn der David mit dem
Goliath...
sind die Schneiderlein in den Grimmschen Märchen mit im Spiel
„An einem Sonntagmorgen saß ein Schnei-
derlein auf seinem Tisch am Fenster, war gu-
ter Dinge und nähte aus Leibeskräften. Da
kam eine Bauersfrau die Straße herab und
rief: „Gut Mus feil! Gut Mus feil!“ Das klang
dem Schneiderlein lieblich in die Ohren, er
steckte sein zartes Haupt zum Fenster hinaus
und rief: „Hier herauf, liebe Frau, hier wird
sie ihreWare los.“
Wer kennt sie nicht, die Geschichte vom „Tap-
feren Schneiderlein“, die des kleinen, dafür
aber ebenso tapferen wie listigen Schnei-
derleins, das sich nach seiner erfolgreichen
Fliegenjagd von Hosen und Jacken verab-
schiedet und auf dieWanderschaft begibt, um
allen zu zeigen, was für ein toller Kerl es ist.
DerWinter und gerade die geheimnisvolle Zeit
vor Weihnachten sind die richtige Gelegen-
Was gibt es
Schöneres:
Draußen bläst
der kalte
Winterwind um
die Hausecke,
drinnen, am
warmen Ofen,
werden Mär-
chen vorgele-
sen.
heit zum Schmökern – auch in alten Märchen-
büchern. Wer dies tut, wird in den Märchen
unter den Handelnden vor allem auch eins fin-
den: Handwerker der unterschiedlichsten
Richtungen. Vor allem aber die „Schneider-
lein“ die zu0m festen Personeninventar vieler
Grimmscher Märchen gehören, mehr als je-
der andere Handwerksberuf. Die Redewen-
dung „Klein, aber oho!“ ließe sich auf die
meisten von ihnen anwenden, auf diese „rech-
ten Leute“, versehen mit einem so feinenVer-
stand, „daß man ihn wohl in eine Nadel fä-
deln könnte“.
Den besitzt beispielsweise auch das „kluge
Schneiderlein“ im gleichnamigen Märchen,
das all die Aufgaben und Rätsel löst, die eine
gewaltig stolze Prinzessin ihren Bewerbern
stellt. Zu Beginn sieht es noch gar nicht da-
nach aus, denn von seinen beiden sich gleich-
falls bewerbenden Kollegen wird das kluge,
aber eben auch etwas leichtsinnige Schnei-
derlein, der „kleine unnütze Springinsfeld“,
eher verlacht als ermuntert. Selbst die Forde-
rung der Prinzessin, nach unerwartet gelöstem
Rätsel nun auch noch eine Nacht bei einem
grimmigen Bären zuzubringen, können den
Optimismus des tatendurstigen Nadelritters
dämpfen, der alles un-
bekümmert angeht
nach der Devise:
„Frisch gewagt, ist
halb gewonnen“.
Und genauso wie
das tapfere
Schneiderlein im
Kampf mit Riesen,
Einhörnern und
Wildschweinen
durch List und Ge-
schicklichkeit Sieger
bleibt, behauptet
sich sein kluger
Kollege gegen den
Bären. List siegt gegen pure
Kraft, der brummige Bär endet mit einge-
klemmten Pfoten und das Schneiderlein mit
der Prinzessin vor dem Traualtar.
In den an sagenhaften Karrieren insgesamt
nicht eben armen Märchen sind es trotzdem
überraschend oft die armen Schneider, die zu
hohen Ehren gelangen wie derjenige in der
Geschichte vom „Gläsernen Sarg“ (in dem
auch hier, genau wie bei „Schneewittchen“,
eine schöne Prinzessin liegt). „Artig und be-
hende“ von Natur aus, fasst er zwar nicht das
Schicksal bei den Hörnern; dafür nimmt ihn
ein wilder Hirsch aufs Geweih und trägt ihn
über Stock und Stein fort bis zu einer wun-
dersamen Felshöhle, wo er, nun, wenn auch
mehr oder minder erzwungenermaßen, schon
einigermaßen mutig alles das tut, was ihm eine
geheimnisvolle Stimme befiehlt. So wird der
Schneider zum Retter der von einem bösen
Zauberer in einen gläsernen Sarg gebannten
Prinzessin und ihres Bruders und erhält zur
Belohnung die Hand der erlösten Schönen.
Vielleicht trug gerade die Tatsache, dass
Schneider aufgrund ihrer sitzenden, an
die enge Stube gebundenen Tätigkeit als
wenig abenteuerlustige Stubenhocker gal-
ten, dazu bei, sie zu geeigneten Objekten
der Märchenphantasie zu machen, zu
mehr oder weniger freiwilligen Helden,
mit denen sich möglichst viele identifi-
zieren konnten, mitleiden mit ihren Gefahren,
mitfreuen an ihrem Glück, das ihnen in etli-
chen der Grimmschen Märchen so unerwar-
tet wie verdient zufällt.
Sympathisch sind sie allesamt, wie der „klei-
ne hübsche Kerl“, der auf seinerWanderschaft
mit einem griesgrämigen Schuster zusammen-
trifft, der trotz allen Neids und aller Ränke in
dem Märchen „Die beiden Wanderer“ nicht
verhindern kann, dass auch hier das Schnei-
derlein die Hand der Königstochter erobert.
Die wenigen schwarzen Schafe, die es in den
Märchen unter den Schneiderlein gibt, fallen
da kaum ins Gewicht, der „große Prahler“ und
„schlechte
Zahler“ im
Märchen „Der Riese und
der Schneider“, ein „Prahlhans“, der
sich selbst gegen einen tölpelhaften Riesen
nicht durchsetzen kann und seine Großmäu-
ligkeit mit ewigem Herumsausen durch die
Luft bezahlt.
Da ergeht es dem vorwitzigen „Schneider im
Himmel“ besser, verzeihen ihm doch der Herr
und sein Diener Petrus die Neugier, die ihn von
himmlischer Warte herab schauen und einen
goldenen Schemel hinunter schleudern ließ,
um eigenmächtig eine Sünderin zu strafen.
Dengelmann, Lügner und Schmiermänn-
chen, Schmetterling und Schwälbchen,
Fuchsschwanz und Katzenzunge. Auch
wenn es so aussieht – es geht um keinen
skurrilen Tierpark, sondern um eine Baustel-
le. Auf der finden sich all diese seltsamen
Wesen, hinter denen sich schlicht Werkzeu-
ge verbergen. Schmetterling und Schwälb-
chen meinen den Flächenspachtel, die Kat-
zenzunge ist eine Firstkelle, der Fuchs-
schwanz eine Handsäge, der Lügner eine
Wasserwaage. Aber nicht nur im Maurer-
handwerk, auch in anderen Handwerksberu-
fen hat sich im Laufe der Jahrhunderte eine
eigene Sprache entwickelt, die reich an
Metaphern, an phantaisevollen, bildhaften
Bezeichnungen für Alltägliches ist.
Trotzdem hat jeder Fachbereich seine eigene
Sprache, die sich durch ihre Besonderheiten
von der Gemeinsprache abhebt und auf die
Bedürfnisse des jeweiligen Faches abge-
stimmt ist. Derzeit gibt es schätzungsweise
300 Fachsprachen.
Viele Bezeichnungen fallen gerade in der
Sprache des Handwerks sehr bildlich aus.
Wörter wie Bockleiter, Drahtmaus und Was-
serhahn zählen dazu, entstanden nach dem
Prinzip der Ähnlichkeit zwischen Gegen-
stand und Namensgeber. Bock und Bocklei-
ter stehen auf vier Beinen, Maus und Draht-
maus sind beide sehr klein, Hahn und Was-
serhahn ähneln sich in der äußeren Form.
Eine Monierzange kann Beißzange, Kneif-
zange, Pitschzange oder Schwiegermutter
heißen, eine Wasserwaage Betrüger, Blase,
Lügenholz, Lügner oder Wahrsager. Die
sprachliche Kreativität der Handwerks-
sprache kennt dabei kaum Grenzen.
Von Fuchsschwanz und Katzenzunge
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