Handwerk Special Nr. 120 vom 9. Februar 2008 - page 18

Dr. Heinz Kahn aus Polch – Überlebender des Holocaust
Ein Gespräch am Rande der 31. Lehrer-Info-Tage
Nr. 120
9. Februar 2008
Toleranz und Wachsamkeit
inmultireligiöser Gesellschaft
Der Grundgedanke der 31. Lehrer-Info-Tage bei der HwK Ko-
blenz spricht Dr. Heinz Kahn, 85 Jahre, Überlebender des
Vernichtungslagers Auschwitz, aus dem Herzen: „Jeder
Mensch hat ein Recht auf Positionierung in unserer Gesell-
schaft, unabhängig von Geschlecht, Rasse oder ethnischer
Herkunft, Religion oder Weltanschauung. Durch Erziehung
und Bildung muss es gelingen, dass kein Platz für Frem-
denfeindlichkeit und Extremismus jeder Art bleibt.“
Interkulturelles Leben und Ler-
nen zu fördern ist für Kahn,
seit 1987 Vorsitzender der Jü-
dischen Gemeinde in Koblenz,
Herzensangelegenheit. Er setzt
sich ein für Toleranz zwischen
Juden und Christen. Er mahnt
einen offeneren Umgang mit
Zugewanderten an. Und immer
wieder fordert er die Toleranz
in einer multireligiösen Gesell-
schaft. Die Schule versteht er als
„Integrationsagentur“, die die
Kinder auf ein selbstbestimmtes
Leben in dieser Gesellschaft
vorbereiten soll.
Ein Dank,
der bewegt
Das Engagement der HwK Ko-
blenz, ihr Gespür, Themen, die
die Menschen bewegen, aufzu-
greifen und bei zahlreichenVer-
anstaltungen in den Mittelpunkt
derDiskussionzustellen,berührt
ihn. „Danke!“, sagt er. Und es
klingt ganz schlicht und bewegt
doch sehr. Gesundheitlich sehr
stark angeschlagen treibt es ihn
dennoch,sichgerademitLehrern
über „das Lehren undLeiten von
jungen Leuten“ auszutauschen.
Auch wenn er dabei alte Wun-
den aufreißt, berichtet Kahn
von unglaublichen Schikanen,
Judenhass und – vonAuschwitz.
Als Einziger seiner Familie hat
er überlebt. Er, der am 3. März
1943 an der Todesrampe von
Auschwitz aussteigen musste,
will diesen Ort des Schreckens
nie wieder sehen. „Du kommst
zurArbeit.Dumusst überleben“,
gab ihm der Vater bei der Selek-
tion der etwa 3.000Deportierten
mit auf den Weg. An diesem
Abend hat er seine Eltern und
seine Schwester Trude zum
letzen Mal gesehen.
Tränen,
wenn Worte fehlen
Heinz Kahn spricht schnell. Er
hat so viel zu erzählen. Trotz
seines Alters ist er ein Ener-
giebündel. Seine Geschichten
sind ungeheuerlich, rufen eine
Gänsehaut hervor. Und bemer-
kenswert: Ein Überlebender der
Todesmaschinerie erzählt, ohne
anzuklagen. Er unterscheidet
zwischen jenen Deutschen, die
den Massenmord zu verantwor-
ten haben und jenen, die seiner
Familie selbst in der Pogrom-
nacht 1938 noch schützend zur
Seite standen. „Ich kann nur
sagen, wie es war, will keinen
Hass säen.“ Wenn er von sei-
nen schrecklichen Erlebnissen
spricht, werden seine Augen
feucht, vor allem dann, wenn
ihn die Erinnerung an den un-
menschlichen Tod vieler seiner
Mithäftlinge einholt. Folter,
Erniedrigungen,willkürlicheEr-
schießungen. Details erspart er.
Dann ist da Schweigen. Tränen
als Zeugnis für das, was Worte
nicht erklären können.
„Ihr seid hier, um zu verrecken.
Der einzige Weg aus diesem
Lager ist durch den Kamin“,
tönte es auf demAppellplatz von
Auschwitz. Kahn überlebte „mit
Glück und Zufall“, wie er heute
einschätzt. Er sagt auch, dass er
„seinen Kameraden irgendwie
immer helfen konnte“. So wird
beispielsweise die Essration, die
er alsHäftlingsschreiber bekam,
zwölf Monate lang abends ge-
teilt. „Das hat mich moralisch
stark gemacht und aufrecht
gehalten.“
Kurz vor Kriegsende kommt er
nach Buchenwald und wird dort
von denAmerikanern befreit. Er
entschließt sich, in Deutschland
zu bleiben, vielleicht, weil er als
Sohn eines Tierarztes in Her-
meskeil bei Trier eine glückliche
undwohlbehüteteKindheithatte.
Kindheitserinnerungen prägen.
Sie bedeuten viel. Am 31. März
1945 kehrt er nach Trier zurück.
„Wieder zu Hause ?!“, er hat
sich diese Frage gestellt. „Ja, ich
war wieder zu Hause“, so sein
Bekenntnis. Es geht unter die
Haut. Er weiß, dass von seiner
Familie niemand mehr da ist,
aber er will leben, gegen das
Vergessen.
1947 ist er Gründungsmitglied
der Jüdischen Gemeinde Trier.
Er findet eine kleine Anstellung
im Arbeitsamt, macht abends
sein Abitur nach und studiert
Tiermedizin. Er legt dasExamen
ab, promoviert. 1950 heiratet er
seine Frau Inge, Tochter eines
jüdischenMetzgersausCochem.
Sie wurde als 14-Jährige mit
den Eltern nach Theresienstadt
verschleppt. Auch sie hat später
nie daran gedacht, Deutschland
zu verlassen. „Meine Familie
lebt seit 500 Jahren in Cochem“,
sagt sie. 1954 zieht das Ehepaar
nach Polch. Hier betreibt Dr.
Heinz Kahn mehr als 50 Jahre
seineTierarztpraxis. „Eswar ein
guter und wichtiger Entschluss,
hierwiederzulebenundjüdische
Gemeindenzugründen“,sinddie
Kahns überzeugt.
Jüdische Gemeinde
in Koblenz
Spricht das Ehepaar heute von
jener Zeit? „Nur, wenn es Be-
richte in den Medien gibt. In
meinen Träumen holt mich die
Vergangenheit allerdings immer
noch ein“, so Kahn. „Ich ziehe
dann die Decke über den Kopf
und weine“, bekennt er. „Wenn
ich höre, dass Eltern ihre Toch-
ter ganz unbekümmert ‚Sarah’
rufen, zucke ich zusammen“,
sagt Inge Kahn, denn Sarah und
Israel waren verordnete Namen
für Juden in Nazi-Deutschland.
Und die Kinder der Kahns? Erst
sehr viel später haben sie vom
Schicksal der Eltern Näheres
erfahren. Lange war der Holo-
caust ein Tabuthema. Der Sohn
lebt und arbeitet heute als Arzt
in Tel Aviv. Die beiden Töchter
wohnen im Kölner Raum.
Durch die Zuwanderung jü-
discher Personenaus denStaaten
der ehemaligen Sowjetunion
stieg die Zahl der Mitglieder der
JüdischenGemeinde inKoblenz
auf derzeit 950 an. „Das hat das
jüdische Leben auch verändert.
Viele der Zuwanderer sind im
jüdischen Glauben nur wenig
verwurzelt. Veränderungen
sind nicht frei von Konflikten,
beinhalten aber auch Chancen“,
weiß Kahn. Er steht für Begeg-
nungsveranstaltungen,Deutsch-
unterricht als wichtige Basis für
Integration und vieles mehr, vor
allem aber für ein friedliches
Zusammenleben der Menschen
unterschiedlichenGlaubens.„Im
Talmudheißt es: ‚Jeder Einzelne
soll sagen: Für mich ist die Welt
erschaffenworden, daher bin ich
mit verantwortlich.’ Das nimmt
uns in die Pflicht!“
Schalom –
Frieden in der Welt
Das Gespräch mit Dr. Heinz
Kahn ist einGesprächmit großer
emotionaler Wirkung, die lange
nachhallt.
„Ich liebe die Menschen, trotz
alledem“,sagterzumAbschluss.
Und er sagt: „Schalom, Frieden
in der Welt.“
Dr. Heinz und Inge
Kahn: „Es war ein
guter Entschluss, hier
wieder jüdische Ge-
meinden zu gründen!“
Bei den HwK-Lehrerinformationstagen im ver-
gangenen November: „Schule ist auch eine Inte-
grationsagentur!”
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