Handwerk Special Nr. 83 vom 17. Oktober 2001 - page 6

Gespräch über Politik, Gesellschaft und den Handwerksmeister
17. Oktober 2001
Nr. 83
Berlin, Bundesministeriumfür
Arbeit und Sozialordnung. Ich
bin mit Walter Riester zumGe-
spräch verabredet. Als Mitar-
beiterin der Pressestelle der
HwKKoblenz bin ich stolz, dass
der Bundesarbeitsminister in
der gegenwärtigen, durch den
Terrorakt gegen die USA an-
gespannten politischen Situa-
tion und einen Tag vor Be-
kanntgabe der neuesten Ar-
beitsmarktzahlen, Zeit findet
zum Interview.
In unserem Gespräch geht es
nicht nur um die politischen
Dinge. Walter Riester ist Hand-
werksmeister. Auch der rhein-
land-pfälzische Wirtschaftsmi-
nisterHans-Artur Bauckhage ist
Handwerksmeister. Schon oft
habe ich mit ihm gesprochen,
auch über Persönliches. Walter
Riester empfinde ich als sehr
sachlich, beinahe introvertiert.
Persönliche Gedanken zu äu-
ßern sind seine Sache nicht. Das
spüre ich. Wenn er über seine
Arbeit spricht, tut er es sehr
engagiert und bringt dabei auch
Emotionen rüber.
Als mir sein persönlicher Refe-
rent am Ende des Gesprächs
verrät, er habe den Minister sel-
ten so offen und persönlich ge-
sehen, bin ich überrascht. In der
Vergangenheit gab es Gesprä-
che mit Politikern, in denen es
knisterte und in denen Span-
nung lag. Mein Eindruck ist
dennoch, dass Walter Riester
ein Minister zum Anfassen ist,
einMenschmit ungewöhnlicher
Biographie, der für seine Arbeit
lebt und seinen Titel „Bundes-
arbeitsminister“ zu Recht trägt.
Der drahtige Riester, Jahrgang
1943, stammt aus dem Allgäu.
Dort hat er bis 1968 als Fliesen-
leger gearbeitet. Nach derMeis-
terprüfung im Jahr 1969 stu-
dierte er an der Akademie für
Arbeit in Frankfurt Betriebs-
und Volkswirtschaftslehre so-
wie Sozialpolitik und Arbeits-
recht. Seit 1957 aktivesGewerk-
schaftsmitglied, wurde er ab
1970 hauptamtlich für den
DGB-Landesbezirk Baden-
Württemberg tätig. Nach sei-
nemWechsel zur IG Metall be-
kleidete er verschiedene Posi-
tionen, bevor er 1993 zum 2.
Vorsitzenden der IG Metall in
Frankfurt/M. gewählt wurde.
WalterRiester ist SPD-Mitglied.
Am 27. Oktober 1998 trat er
sein neues Amt im Bundesar-
beitsministerium an. Seine
Amtszeit hat er als der große
Hoffnungsträger begonnen.
„Mehr Mut zur Veränderung“,
forderte er. Er trat an mit dem
Vorsatz, den jahrzehntelangen
Reformstau im Bereich der So-
zialversicherung und des Ar-
beitsmarktes aufzulösen.
„Ja, ich mach’s!“
Was hat den Handwerksmeister
und aktiven Gewerkschafter an
der neuen Aufgabe gereizt? -
„Meine Überzeugung, dass die
innenpolitische Erneuerung in
unserem Land über Arbeit und
Soziales läuft. Dabeimüssen die
Wirklichkeit schonungslos of-
fen dargestellt und Lösungen
gefunden werden, die sich rea-
lisieren lassen. Man darf sich
nicht in Illusionen flüchten“,
sagt er. „Ja, ich mach’s“, hat er
deshalb nach einem Tag Be-
denkzeit gesagt, als Bundes-
kanzler Gerhard Schröder ihn
als politischen Seiteneinsteiger
ins Kabinett holte.
Die Nackenschläge, die er in-
zwischen einstecken musste, so
bei der Nachbesserung des Ge-
setzes zur Bekämpfung aus-
ufernder Scheinselbststän-
digkeit, sind für den 58-jähri-
gen Arbeitsminister „normal“,
weil gerade seine Politikfelder
„fast jeden Menschen erreichen
und in der Vergangenheit im-
mer sehr illusionär dargestellt
wurden“, betont er. „Sozial-
reformer haben es nie leicht,
weil Sozialreformen, wenn es
nicht gerade etwas zu verteilen
gibt, immer unpopulär sind“,
fügt er hinzu.
Die „Riesterrente“
Seine eigene Bilanz nach drei
Jahren Amtszeit sieht er posi-
tiv. „Es macht Spaß, politisch
zu arbeiten.“ Die Reform der
Alterssicherung, die jetzt auf
zwei Säulen steht und „witziger-
weise Riesterrente genannt
wird“, was er sich „überhaupt
nicht hat vorstellen können“,
sei schließlich ein „guter Aus-
weis“ und er habe ein „gutes
Gefühl“. Zu den wichtigen Ar-
beitsergebnissen zählt Riester
auch die Neuregelung der
sozialversicherungsfreien 630-
Mark-Arbeitsverhältnisse. „Es
kann nicht sein, dass Hundert-
tausende zwei und mehrere die-
ser Jobs steuerfrei machen und
gleichzeitig Arbeitslosengeld
oder Sozialhilfe bekommen.“
Er spricht vom „Job-AQTIV-
Gesetz“ zur Senkung der Lang-
zeitarbeitslosigkeit. AQTIV
steht dabei für Aktivieren, Qua-
lifizieren, Trainieren, Investie-
ren. Kernstück ist die zügige
und schnelle Vermittlung auch
von älteren Arbeitnehmern
durch die Arbeitsämter. „Wir
müssen begreifen, dass Men-
schen mit 50 noch nicht alt sind.
Wir wollen sie nicht nur vermit-
teln. Wir müssen die Betriebe
davon überzeugen, dass es sinn-
voll ist ältere Arbeitnehmer zu
halten und zu qualifizieren.“ In
diesem Zusammenhang spricht
er auch davon, dass das Hand-
werk treu zu seinen Mitarbei-
tern stehe. „Die Werteorien-
tierung wird wieder wichtiger.
Das ist auch ein Stück Lebens-
kultur.“
Es gibt immer Alternativen
Von den Älteren zu den Jünge-
ren und ihren Zukunftsperspek-
tiven. Was rät Riester den jun-
gen Leuten, die am Anfang ste-
hen und sich orientieren müs-
sen? „Zunächst ist die Zahl der-
jenigen, die sich verweigern zu
lernen, sehr gering. Die Anfor-
derung in der beruflichen Aus-
bildung ist sehr hoch, so dass
vor allem junge Leute ohne
Hauptschulabschluss frühzeitig
kapitulieren. Wir müssen ihnen
deshalb das anbieten, was sie
auch leisten können. Ich plädie-
re für eine modulare Qualifizie-
rung mit sozialpädagogischer
Betreuung für benachteiligte
Jugendliche. Die jungen Leute
sehen dann Perspektiven. Sie
verstehen besser, dass eineQua-
lifikation lediglich die Grund-
lage ist, an der man ständig
weiterarbeiten muss.“
Walter Riester räumt ein, dass
sein Lebensweg von der Flie-
senlegerlehre über zwölf Ar-
beitsjahre auf dem Bau hin zum
Bundesarbeitsminister sicher
nicht das typische Zu-
kunftsbeispiel sei, dass er aber
für diesen Weg sein „ganzes
Leben autodidaktisch gearbei-
tet hat.“ - „Nicht jeder kann
alles, aber für jeden gibt es Al-
ternativen.“
Macht in der Demokratie
Was Walter Riester sagt, sagt er
engagiert. Seine dunklen Au-
gen blitzen und er unterstreicht
seine Worte mit Gesten. Macht
Politik süchtig? „Mich nicht.
Bestimmte Verhaltensweisen,
die ich aus der Politik kenne -
wie über Bande spielen - sind
nicht meine Sache. Ich mache
mit innerer Überzeugung mei-
ne Arbeit, mich treiben die un-
gelösten Fragen, aber süchtig
bin ich nicht.“
Wie machtbewusst ist Walter
Riester? „Macht ist in der De-
mokratie auch etwasGutes.Man
braucht sie, um etwas bewegen
zu können. Leider erlebe ich zu
häufig, dass Macht zum Selbst-
zweck wird. Das lehne ich ab.
Ich habe ein Mandat auf Zeit,
solange es der Bundeskanzler
für richtig hält, mit mir als Ar-
beitsminister zu arbeiten. Um
wichtige Dinge durchsetzen zu
können, setze ich meine Macht
ein.“ Hat er dennoch schon ein-
mal daran gedacht alles hinzu-
werfen? „Nein“, so die sponta-
ne Antwort.
VomFliesenlegermeisterzumBundesarbeitsminister
Walter Riester im Exklusiv-Interview für HANDWERK SPECIAL
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