Handwerk Special 59 vom 28.11.1997


Ein Gerber und sein Harem

Mit den 'Winninger Heften' an den Bosporus...

"Meine Augen taten mir weh und waren zu wenig zum Sehen", schreibt er und erzählt von einem Garten mit pyramidenförmigen Rosenstöcken, die zwei Stockwerke hoch sind. Er schwärmt von den vergoldeten Fingernägeln der Haremsdamen in einem Schloß des Sultans am Bosporus und ihren Stimmen, deren Klang Vogelgezwitscher gleichkommt. Kein Fremder hat die Damen je ohne Schleier aus nächster Nähe gesehen. Christian Kraemer, Gerbergeselle aus Winningen, erklärt im Reisebericht über seine Wanderjahre von 1836-1850, wie ihm das schier Unmögliche gelang.

Ehepaar Krumme
Geben gemeinsam die "Winninger Hefte" heraus: Siglinde und Ekkehard Krumme aus Winningen.
Historisches Konstantinopel
Ansicht des historischen Konstantinopel. Das Original dieses Bildes brachte der Winninger Gerbergeselle Christian Kraemer 1850 vom Bosporus an die Mosel.

Er berichtet, wie er eines Tages aufbrach aus Winningen, seinem moselländischen Heimatort, in eine ihm fremde Welt, um sich in seiner Profession zu vervollkommnen und sein ausgeprägtes Interesse, seine Neugier an allem Neuen zu befriedigen. Seine Wanderschaft führt ihn quer durch Deutschland über Ungarn, Siebenbürgen bis an den Bosporus nach Konstantinopel, wo er fünf Jahre in seinem Handwerk arbeitet. Kraemer, der lediglich die Elementarschule besucht hat, reift in dieser Zeit an Erfahrung und Bildung. Seine Winninger Mitbürger begegnen ihm bei seiner Rückkehr mit Achtung und Wertschätzung. "Jedermann achtete den 'Türken' und sprach mit Bewunderung von ihm", schreibt der bekannte Zeitzeuge August Horch. In seinem Wanderbericht erweist sich Kraemer als talentierter Erzähler. So berichtet er über die einzige türkische Gerberei, die ein Engländer "mit allen Bequemlichkeiten, mit Wasser und Dampfmaschinen, die die Walze in Bewegung setzen", eingerichtet hat und in der "schlechtes Leder gearbeitet wird."Er beschreibt Landschaften, Städte und Menschen, deren politische, kulturelle, wirtschaftliche und soziale Strukturen zu seiner Zeit noch ganz in den überkommenen Traditionen wurzelten. Sein Wanderbericht wird deshalb zu einem wertvollem Zeitdokument. Es ist das Verdienst von Ekkehard Krumme und seiner Frau Siglinde, einer gebürtigen Winningerin, die von Christian Kraemer während seiner Wanderschaft gemachten Aufzeichnungen lesbar und verständlich darzustellen.

Zum Beruf
Der Gerber konserviert tierische Felle und Häute und verarbeitet sie. Man unterscheidet heute: die pflanzliche Gerbung für Ledersorten wie Treibriemen, die mineralische Gerbung bei Bekleidung und Schuhoberleder und die Alaun- und die Fettgerberei.

Die "Winninger Hefte" stehen in zahlreichen Bibliotheken, so beispielsweise in der Spezialbibliothek für Kunst- und Kulturgeschichte im Germanischen Museum in Nürnberg.

Band 6 der "Winninger Hefte" hat 200 Seiten mit zahlreichen Abbildungen und kann ab dem 1. Dezember bezogen werden über den Siglinde Krumme Verlag, Postfach 1201, 56333 Winningen. Erstmals wird er auf dem Winninger Weihnachtsmarkt verkauft.

Als Band 6 der "Winninger Hefte" werden sie unter dem Gesamttitel "Von der Mosel zum Bosporus" erstmals veröffentlicht. Über 100 Manuskriptseiten wurden vom Herausgeber übertragen und mit zurückhaltenden, aber notwendigen Anmerkungen versehen. Die "Winninger Hefte" (der erste Band erschien 1985) verstehen Ekkehard und Siglinde Krumme als "Gedächtnis der Vergangenheit und zugleich Vermächtnis an die Zukunft." Sie lassen in ihnen die Quellen sprechen, vor allem aber auch die Menschen aus Winningen und Umgebung. "Menschen, die den Ort mit Leben erfüllt und ihn im Laufe seiner Geschichte mitgeprägt haben. Zu unserer Arbeit gehört viel Idealismus. Eine starke innere Verbundenheit mit der Heimat macht sie möglich. Es bringt aber auch viel Zufriedenheit, wenn man Geschichte bewahrt", so Verlegerin Sieglinde Krumme.