Handwerk Special 59 vom 28.11.1997


Moderne Hexerei

Modellbau: Von der Idee im Kopf zum Werkstück in der Hand

Man stelle sich vor: Ein geschlossener Würfel, darin mehrere Bälle. Alles in einem Arbeitsgang hergestellt, alles aus einem Werkstück. Keine Klebestellen, kein Schweißnaht - der Betrachter steht vor einem Rätsel. Wie kommen die Bälle in den Würfel? Moderne Hexerei? Vor einigen hundert Jahren ein Fall für harte Strafen, heute Höchstleistung innovativer Handwerker. Die Hexer der Moderne heißen Modellbauer - ein Handwerksberuf, der von Vielseitigkeit lebt.

Kein Tag ist wie der andere: Modellbauer fertigen Unikate oder Kleinstserien für Funktionstests - kein Auftrag gleicht dem anderen. Verschiedenste modellierbare Materialien kommen zum Einsatz - kein Anspruch gleicht dem anderen. Modellbaubetriebe vereinen verschiedenste Berufe unter einem Dach - keine Tätigkeit ist wie die andere. Dreher, Gießer, Maler und Lackierer, Tischler, CNC- und CAD-Fachkräfte sorgen mit ihrer Arbeit für ein Produkt, daß es noch gar nicht gibt. Oder für die Konkurrenz des Auftraggebers noch gar nicht geben darf...

Gunter Rhein Manfred Beckheimer
Der Modellbau bietet in vielen Bereichen eine berufliche Heimat, vom Dreher, Gießer, Maler und Lackierer bis zur CNC-/CAD-Fachkraft. Der 23jährige Gunter Rhein ist gelernter Industrie-Mechaniker und arbeitet heute an einer CNC-Maschine. 700 Grad im Schmelztiegel sorgen für flüssiges Metall in der Schneider-Gießerei, das Manfred Beckheimer anschließend in "Höchst"form bringt.
Prototyp für die Gesundheit: Künstliche Hüftgelenke aus Kunststoff und Metall, hergestellt mit verschiedenen Fertigungsmethoden.

VW, Porsche oder Volvo spielen mit ihren Produkten weltweit in der ersten Auto-Liga ganz vorne mit - Grund genug, sich bei der Entwicklung künftiger Modelle nicht in die Karten schauen zu lassen. Für das Bad Kreuznacher Handwerksunternehmen Schneider Prototyping Veranlassung, nicht jeden neugierigen Blick in die Werkstätten zuzulassen. Denn dort findet vielleicht gerade ein friedliches Rendevouz mit Porsches neuem Getriebegehäuse oder Volvos künftiger Mittelkonsole statt. 45 Mitarbeiter sorgen von der elektronischen Anlieferung via Datenträger bis zum fertigen Bauteil in mehreren Werkstätten dafür, daß die Entwicklungsingenieure in Stuttgart oder Schweden ihre Ideen das erste mal in Händen halten können - wahlweise aus Kunststoff oder Metall.

"Schneider Prototyping" gehört heute zu den führenden Modellbauunternehmen. Die Kundenkartei ist lang, Staubsaugergehäuse, künstliche Hüftgelenke, Sonnenbrillen oder Teile fürs Auto - 500 verschiedenste Bauteile, die später in Großserie gebaut werden sollen, erblicken monatlich in der Kreuznacher High-Tech-Schmiede das Licht der Welt und treten ihre Reise zu mehr als 1300 Kunden in ganz Europa und Israel an. "Hexenmeister" des Unternehmenszaubers ist Geschäftsführer Dr. Jacques Topf. Der gelernte Bankkaufmann promovierte in Bio-Chemie. Was er für seine heutige Tätigkeit davon nutzt? "Logisches Denkvermögen. Lösungen im Prototypenbau werden nicht vom Auftraggeber mitgeliefert - da sind wir gefragt, sowohl in theoretischer wie auch praktischer Umsetzung. Was läßt sich wie fertigen, was ist materiell überhaupt machbar? Aber auch: Wie erschließen wir neue Märkte, steigern den Umsatz, wohin entwickelt sich die High-Tech in unserem Beruf, denn wir beliefern nicht nur Zukunftstechnologien, sondern arbeiten auch damit."

Und wie kommen nun die Bälle in den Würfel? Voraussetzung ist eine zwei- oder dreidimensionale Vorgabe, beispielsweise als elektronische Konstruktionszeichnung. Die wird in den eigenen Computer überspielt. Unser Würfel und die Bälle existieren nun als elektronisches Datenpaket und werden im firmeneigenen EDV-Netz an eine Modelliermaschine übertragen. Hier wird aus dem Zauber Wirklichkeit. Das zu fertigende Bauteil wird elektronisch in 0,15 mm flache Scheiben "zerschnitten" - ähnlich einer Brotmaschine. Aus unserem Würfel wird im Schnitt ein Viereck, aus den inneren Bällen Scheiben - etliche hundert mal. Jede dieser Scheiben wird abfotografiert. Viereck und Kreise werden belichtet, diese Stellen elektrostatisch aufgeladen. Anschließend sprüht eine feine Düse flüssigen Kunststoff auf das "Foto". An den elektrostatisch geladenen Stellen - also dem Viereck und den Kreisen - bleibt der Kunststoff haften und härtet sekundenschnell aus, der Rest wird abgesaugt. Die entstehenden Hohlräume werden mit Wachs gefüllt. So erarbeitet die Maschine schichtweise das spätere Werkstück - mit jedem Arbeitsgang wächst dieses um 0,15 mm. Unser Würfel und seine Bälle? Die Bälle im Würfel sind fertig und von Wachs eingeschlossen, mit der letzten Schicht wird der Würfel oben geschlossen. Anschließend wandert er in eine "Waschmaschine", bei deren Temperatur der Wachs im Inneren schmilzt und über ein winzig kleines Loch aus dem Würfel ausgespült wird. Was bleibt? Ein Würfel mit losen Bällen im Inneren, den es so eigentlich gar nicht geben kann...